Indienreise XI: Die Rückkehr des Königs
Als König Mahabali – in leuchtendem Gewand und mit goldenem Schmuck – vor uns erschien, ergriff unsere Gruppe ein ehrfürchtiges Staunen. Nach der Legende kehrt Mahabali während des Onam-Festes für zehn Tage aus der Unterwelt zurück, um sein Volk zu besuchen. Ein verkleideter Mahabali tanzte lachend auf uns zu, und wir tanzten mit, als ob Zeit und Raum aufgehoben wären. „Es ist, als ob Geschichte lebendig würde“, flüsterte jemand bewegt.
Das Fest offenbarte sich als Inszenierung einer utopischen Ordnung, in der Grosszügigkeit und Gleichheit zentrale Werte sind. Die Trommelschläge des Chenda Melam (traditionelles Trommelensemble) verbanden die Menschen in einem gemeinsamen Rhythmus. Das Sprichwort kanam vittum onam unnanam – „Verkaufe sogar dein Land, aber feiere Onam“ – erwies sich als Ausdruck radikaler Gastfreundschaft. Auf dem Bananenblatt vor uns entfaltete sich die Sadya, ein vegetarisches Festmahl von 26 Gerichten. Es war nicht nur ein Essen, sondern eine kulinarische Kosmologie.
Von würzigem Sambar über cremiges Avial bis zum süssen Payasam reihte sich Gericht an Gericht in festgelegter Ordnung. Die Abfolge spiegelte den Kreislauf von Entbehrung und Fülle, von Ernte und Erneuerung. „Das ist mehr als Nahrung – es ist eine kosmische Ordnung“, staunte eine Teilnehmerin. Mit der Hand zu essen, verstärkte die innere Sammlung und die Verbundenheit mit dem Ritual.
Auch die Kleidung hatte symbolische Kraft. Die Frauen trugen Saree, die Männer Mundu, beide präzise angepasst von erfahrenen Händen. Das Ankleiden verwandelte sich in ein Lehrstück über Identität und Zugehörigkeit. Kleidung wurde zur Sprache der Gemeinschaft.
Der klassische Tanz Kuchipudi, aus Andhra Pradesh stammend, zeigte die kulturelle Offenheit Südindiens. Die Tänzerin erzählte mit feinen Mudras (Handgesten) Geschichten aus uralter Zeit. „Diese Bewegungen sind wie gesprochene Gebete“, meinte ein Beobachter ehrfürchtig. Beim Thiruvathira, einem Kreistanz der Frauen, wurden auch wir Teilnehmende. Die konzentrischen Bewegungen liessen Grenzen verschwinden und erzeugten eine tranceartige Harmonie.
„Jetzt spüre ich, was Gemeinschaft bedeutet“, rief eine Mitreisende bewegt. Ein Ausflug in die Mangroven ergänzte die Erfahrung um eine ökologische Dimension. „Die Natur ist hier nicht Kulisse, sondern Mitfeiernde“, sagte jemand leise. Auch die Spiele Kaserakali und Sundarikku pottuthodal stärkten Vertrauen und Zusammenhalt.
Mit verbundenen Augen suchten wir nach vertrauten Händen – ein Spiel, das Nähe schuf und Hierarchien auflöste. So offenbarte sich Onam als visionäres Gesellschaftsmodell: eine Synthese aus Spiritualität, Ästhetik und Grosszügigkeit. Für einen Tag lebten wir in einer Welt, in der Mythos und Alltag verschmolzen. Als Mahabali sich schliesslich verabschiedete, blieb die Ahnung zurück, dass Kultur nicht nur bewahrt, sondern auch träumt. Und manchmal, für kostbare Augenblicke, wird dieser Traum Wirklichkeit.
- Ein Reisebericht aus Indien von bruder george